Little Simz by Thibaut Grevet

Little Simz zeigt sich auf »Lotus« stark, befreit und widerstandsfähig

In Asien steht die Lotusblüte für Reinheit, Treue, Schöpferkraft und Weisheit. Da ihre Blätter und Blüten Wasser und Dreck abprallen lassen, ist die Lotusblüte die einzige Blume, die im Schlamm wachsen kann. Dadurch, dass der Dreck nicht an ihr haften kann, weist sie auch Pilze oder andere Organismen ab, die ihr schaden könnten. Der Titel hat uns zwar schon einiges über die Gefühlswelt von Simz erahnen lassen, aber selbst Fans, die die Karriere von Little Simz schon seit Jahren verfolgen, werden von den jüngsten Interviews, welche infolge der Promo für »Lotus« veröffentlicht wurden, überrascht sein.

Die Künstlerin hat hart gekämpft, vor allem mit sich selbst. In Interviews mit unterschiedlichen BBC-Radio-Formaten gab sie preis, dass sie sich verloren gefühlt hat. Sie wusste während des Prozesses häufig nicht, wo es hinführen würde. Obwohl sie bekannt ist für ihre tiefen, ehrlichen und persönlichen Lyrics, war es trotzdem schwer, sich unter den neuen Bedingungen zu öffnen. Der Selbstzweifel war zum Teil wohl sogar so stark, dass sie überlegt hat, die Musik ganz aufzuhören – zu unserem Glück hat sie sich dann aber entschieden, alles reinzustecken und keine Limits oder Grenzen zu haben. Für den Fall, dass es wirklich ihr letztes Album werden sollte. Genau danach hört sich »Lotus« aber auch an: grenzenlos und frei.

Die Produktion

Der größte Wandel ist wohl die Produktion von »Lotus«.
Die letzten drei Alben »NO THANK YOU«, »Sometimes I Might Be Introvert« und »GREY Area« sind zwar drei sehr unterschiedliche Projekte gewesen, dennoch wurden sie alle vom Producer und Sault-Mastermind Inflo produziert. Simz und Inflo gingen eigentlich kreativ Hand in Hand – nicht nur, weil sie in den gleichen Kreisen aufgewachsen sind, sondern vor allem auch, weil sie eine kreative Vision teilten. Die letzte EP »Drop 7« war aber nicht nur ein großer Stilbruch zu den vorherigen Projekten, sondern vor allem auch ein Bruch mit Inflo.

Der Sound war zwar ganz anders, aber keineswegs schlechter. Hinter der Produktion steckt diesmal Jakwob. Der britische Producer und DJ hat eine ganz neue Seite von Simz zum Vorschein gebracht, die viel elektronischer und experimenteller im Sound ist. Die erste Single-Auskopplung ihres neuen Projekts mit dem Titel »Flood« wurde ebenfalls nicht von Inflo, sondern von Miles Clinton James produziert. Wieder hören wir eine ganz neue Seite von Simz, die durch die eindringlichen Drums intensiv und eindringlich – auf die beste Art – klingt.

Der Bruch

Allerdings verbirgt sich hinter dem Bruch mit Inflo auch eine nicht ganz so schöne Geschichte: Es geht leider um Geld – und zwar sehr viel –, das Little Simz von diesem nicht erhalten hat. Die Enttäuschung und Wut darüber ziehen sich wie ein roter Faden durch »Lotus«. Vielleicht interpretieren wir auch zu viel hinein, aber man muss sich nur den Intro-Track »Thief« oder »Hollow« anhören und kann sich seine Schlüsse ziehen.
So traurig das für Fans auch sein mag, vor allem wenn eine so enge Freundschaft wegen etwas so Dummem wie Geld zerbricht – bitte bezahlt eure Artists anständig! – dem Sound von Little Simz schadet es nicht. Im Gegenteil: Die drei vorab veröffentlichten Singles könnten kaum unterschiedlicher sein. »Flood« hat die Messlatte an Erwartungen bereits sehr hoch gelegt. Es folgt »Free«, ein Song, der so smooth im Sound ist und die rohen Lyrics wie eine heilende Decke umschmeichelt. Eine wahrlich freie Simz, die sich auf der dritten Single im Bunde »Young« in eine cheeky Grandma verwandelt und eine rockige Seite offenbart, die wir so noch gar nicht gehört haben. Absolut britisch – im besten Sinne.

Miles Clinton James mag zwar noch recht unbekannt sein, aber dafür hat der Mann eine Bandbreite, die wirklich alle Facetten von Little Simz hervorbringt. Besonders ist vor allem, dass jedes Lied auf »Lotus« wie ein eigener Film gehört werden kann – das Kopfkino rattert nur so vor sich hin. Das Team hinter »Lotus« mag zwar neu sein und der Prozess war sicherlich nicht einfach, aber das Ergebnis hat hoffentlich auch die letzte zweifelnde Stimme im Kopf von Little Simz gelöscht.

Die Features

Ein weiteres Highlight sind die Features auf »Lotus«. Es ist fast, als hätte Simz unsere Lieblings-Artists unserer Musikbubble auf einem Projekt vereint. Alte und treue Gefährten wie Obongjayar und Wretch 32 treffen auf weitere bekannte Kollaborateure wie Michael Kiwanuka und Sampha. Aber es sind eben auch eine Moonchild Sanelly und Yukimi vertreten, sowie Moses Sumney, Lydia Kitto, Miraa May und Yussef Dayes. Jede einzelne Person trägt genau das perfekte Etwas zu den jeweiligen Songs bei. Es fühlt sich wirklich an, als hätte Simz für jeden kreativen Topf den passenden Deckel gefunden.

»Lion« ist der zweite Track des Projekts mit Obongjayar und zeigt eine stolze Simz zu einem spielerischen Beat, der ganz eindeutig von ihren nigerianischen Wurzeln inspiriert wurde. Es folgt »Enough« mit Yukimi, die gerade selbst – nach Jahren als Frontfrau von Little Dragon – ihr erstes Soloalbum »For You« veröffentlicht hat. Beide zusammen auf einem Song sind absolutes Dynamit.
Aber wir müssen vor allem auch über »Blood« sprechen – ein Track, auf dem Simz ein ganzes Gespräch in Rapform mit Wretch 32 führt, als Geschwister mit schwieriger Beziehung. Wem spätestens nach »I only phoned you cause I need a friend« nicht Gänsehaut über die Arme läuft und Pippi in die Augen steigt, ist ein Stein. Hinzu kommt noch Cashh im Refrain, und der Song ist eine absolut runde Sache.

Einen ähnlichen Effekt hat der Song »Lotus«, auf dem Michael Kiwanuka und Yussef Dayes mitwirken. Simz zeigt sich genauso emotional, aber eher in ihrer Wut – und es ist wohl der Song, auf dem sie lyrisch am meisten auf den inneren Kampf der letzten Jahre eingeht.

My pen has always been respected / I’m still connected / And when I write, it’s introspective / Somewhat subjective / I’m not sure who you think I am / Or what you’re expecting / But I been human all my life / So, please accept it

Little Simz »Lotus«

Little Simz zeigt auf dem Song, wieso sie lyrisch eine der besten der UK ist. Das Ende ist allerdings nochmal ein Highlight. »Blue« ist der emotionalste Song, auf dem sie nochmal alles rauslässt, was sich angestaut hat. Zudem kommt, dass es nach »Satellite Business 2.0« die zweite Kollaboration mit Sampha ist – und die beiden harmonieren so, wie wir es uns erträumt haben. Absoluter Tearjerker of a Song.

Das Album im Ganzen

Der Vorsatz, nichts zurückzuhalten, hat sich auf jeden Fall ausgezahlt. Little Simz zeigt so viele unterschiedliche Facetten auf diesem Album. Offene und verletzliche Songs wie »Lonely«, »Hollow« oder »Blood« treffen auf wütendere Tracks wie »Lotus«, nur um dann auf »Young« oder »Enough« wieder spielerisch neue Genres auszuprobieren. Das Album ist mal wieder ein gelungenes Konzeptalbum, das uns auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitnimmt. Dabei überzeugt Little Simz mit einer Widerstandsfähigkeit und einem Feuer (um Joy Crookes zu zitieren), die beweisen, dass Offenheit und Vulnerabilität ihre größten Waffen sind. Das Album bietet wahrlich alles, was man sich von einem guten Konzeptalbum wünscht: Tränen aus Trauer und aus Wut, befreites und verschmitztes Lachen – und vor allem eine Stärke, die von der Künstlerin direkt auf die Hörenden übergeht. Klar ist man als Fan immer voreingenommen, aber es gibt absolut nichts Negatives, was ich über »Lotus« sagen könnte. Die Erwartungen wurden mal wieder übertroffen.

I was lonely making an album till I realized I’m all I needed to get through

Little Simz »Lonely«
Little Simz by Thibaut Grevet
Der einzige Grund, wieso »Lotus« keine 10 Punkte erhält, ist, dass Little Simz sich mit jedem Projekt steigert – und das ganz sicher noch nicht der Höhepunkt ihrer Karriere ist.
9