Die Alben des Monats | Juli 2023

Willkommen zur Juli-Ausgabe der Alben des Monats! Regen, Sonne, Regen, Sonne – so spielt das Wetter gerade. Aber gute Musik lässt uns nicht im Regen stehen, denn es gibt wieder ein paar musikalische Lichtblicke.

Den Anfang macht nikan, der mit »bittersüss« ein beachtenswertes Debütalbum droppt. Fernab von Mainstream-Einheitsbrei präsentiert der Düsseldorfer uns einen Stilmix, der deutlich zeigt: Hier folgt man dem eigenen Soundtrack. Alles dabei: Von Memphis Sound bis UK Garage und Jersey Club. Keine Hit-Fabrik, sondern ein Künstler, der sein Ding durchzieht und das gekonnt. Von nikan schwenken wir zu Ritter Lean, dessen Wechsel vom Schauspiel zur Musik auf seiner humorvoll-melancholischen EP »Auch ein Atze muss mal weinen« eindrucksvoll seinen Lauf nimmt. Zum Abschluss bringt uns KitschKrieg mit »German Engineering Vol. 1« eine Weltreise, die uns über die Grenzen von Deutschland hinaus über die USA bis nach Großbritannien führt.

nikan – bittersüss

Cover via November Eleven / FOUR MUSIC / Sony Music

„Ja, ich dropp was ich will, bin nie Teil der Scene“ auch nach drei Jahren im Game, drei EPs und zahlreichen Singles spielt nikan weiterhin in seiner eigenen Liga. Auf seinem Debütalbum »bittersüss« bleibt sich der Düsseldorfer treu und veröffentlicht eine Sammlung von Tracks, die eine klare Vision bezeugen. 

»bittersüss« ist zu gewissen Teilen eine Familienangelegenheit. Als einziges Feature steuert Ian zwei Parts bei und in den Credits von den Singles »gtmf«, »pink« und »neonlichter« taucht wieder der Name Alexis Troy auf. Lediglich Labelchef und Produzentenlegende Stickle sucht man vergeblich. Nachdem dieser noch maßgeblich am Erfolg früherer Songs wie »Jorja« und »shorty klickt« beteiligt war, schafft es nikan auf seinen neuen Tracks auch ohne Stickle, den geschliffen cleanen Sound zu liefern, der die Musik des Düsseldorfers seither auszeichnet. Die Produktionen, die dieses Mal größtenteils von can’t be bought von nocashfromparents stammen, klingen wie maßgeschneidert.

Neben den organischen Instrumentals sorgt nikan aber vor allem auch mit seinen Zeilen dafür, dass jeder Track innerhalb von Sekunden eine Flut an Bildern zeigt, die in ihren besten Momenten auch Emotionen und liebevolle Gedanken ohne Kitsch transportiert. Das alles schafft nikan ohne komplexe Vergleiche oder komplizierte Metaphern. Im Zusammenspiel mit den flächigen Beats funktionieren Collagen wie diese, auch wenn sie ohne Kontext zunächst eher flach erscheinen:

Ruf mich an ohne Grund, hundert Herzen im Phone / Ihre Welt ist so bunt, doch die Heels alle Chrome / Meine Grillz aufm Schoß, iPhone-Hülle ist matt / Zipper zieh ich nur noch hoch, selber Junge und Stadt

nikan auf blau weißes herz

Zugegebenermaßen ist »bittersüss« kein Album für Fans von lyrischen Tiefgang oder sozialkritischen Inhalten. Auf Tracks wie dem bouncigen »kaytranada session« oder dem melancholischen »pink« wagt sich nikan aber an so etwas wie Liebessongs der Gen Z. Gespickt mit Referenzen an Chatnachrichten und Liebe in Social Media verpackt nikan diese Themen unaufdringlich, wodurch sich die Tracks gut in das Gesamtbild einfügen. Einzig »seelen« sticht heraus mit einer Geschichte über Mike und Emma und setzt neue Impulse.

Insgesamt ist »bittersüss« ein absolut gelungenes Debut. Es zementiert nikans Gespür für gute Beats und seine Gabe, die Stimmung auf jedem Track in knappe, effektive Zeilen zu verpacken. Gleichzeitig gibt das Album aber auch einen Einblick, in welche Richtung er sich auf weiteren Releases entwickeln könnte. Einen Plan hat nikan dafür bestimmt sowieso schon.

– Roman Zingel

Ritter Lean – Auch ein Atze muss mal weinen

Foto via jungeratze / Bamboo Artists / VENTURA Records
Cover via jungeratze / Bamboo Artists / VENTURA Records

Adrian Tillmann aka Jasper aus der Serie Biohackers aka der beste Freund von Ski Aggu aka Ritter Lean ist ein Multitalent. Als studierter Schauspieler hat er dieses Jahr seine Karriere als Musiker so richtig gestartet. Zwar veröffentlichte er schon 2018 Musik, jedoch kann man den 23.02.2022 als Geburtstag des Ritter Lean bezeichnen. An diesem Tag erschien sein erstes, offizielles Lied »Einsame Insel« auf Youtube und einen Tag später dann auf Spotify. Nun, knapp 5 Monate später, hat Ritter Lean bereits seine erste, Sieben-Track-starke EP »Auch ein Atze muss mal weinen« veröffentlicht – und gleich überzeugt.

Der Song »Einsame Insel« verarbeitet eine Trennung, auf »Ipanema« huldigt er seinem Baby und auf »Sticker« vermisst er eine Verflossene. Es geht auf und ab. Liebe ist ein fast allgegenwärtiges Thema. Doch egal, ob das Gefühl hinter einem Song ein befreiendes oder drückendes ist, seine Leichtfüßigkeit kommt so oder so zur Geltung. Diesem Umstand fängt das Cover der EP und der dazugehörige Titel »Auch ein Atze muss mal weinen« gut ein. Eine deftige Prise Humor, hier und da Jugendsprache und Selbstironie gehören genauso dazu, wie die intuitive Selbstverständlichkeit mit der er Ohrwürmer am Fließband komponiert. Die Produktionen klingen sauber, die Songs sind facettenreich und immer mit einem Touch Party im Rhythmus. Nah genug an Pop um catchy zu sein, weit genug weg um indie zu sein. Der Berliner tanzt auf dem Seil dazwischen und hält die Balance. Nicht das, was man von einem Newcomer erwarten würde.

Eine thematische Ausnahme bildet die vorab erschienene Single »Berlin Boujee«. Der Song ist an eine Freundin des Rappers adressiert. Sie verliert sich in Berlin, verrät ihre alten Werte und Ritter Lean aka ihr Kumpel Adrian versucht sie sanft auf den Boden der Realität zurück zu holen.

Ein frisches Song-Konzept, eine freshe EP und ein gerade erst startender Ritter Lean mit Energie.

– Tim Mahler

KitschKrieg – German Engineering Vol. 1

Cover via SoulForce Records

Was war das für ein Aufschrei in der deutschen Hip-Hop Szene! DAS Dreamteam der jüngeren Deutschraphistorie hatte sich getrennt. KitschKrieg und Trettmann gehen nun getrennte Wege – undenkbar eigentlich, nachdem die Kombi die zweite Hälfte der 2010er wie kaum jemand anderes prägte. Tretti ist also seit neustem nicht mehr in schwarz-weiß unterwegs – und KitschKrieg? Sind mittlerweile weggezogen von Deutschland und gehen auf Spurensuche in Amerika und England. Vor allem in der Underground-Szene der beiden Länder sind Fiji Kris, Fizzle und °awhodat° im Moment am Diggen und Netzwerken in den beiden englischsprachigen Ländern, die ein so reichhaltiges Aufgebot an vorwärtsgerichteten Künstler*innen zu bieten haben.

Ein erstes Zeugnis darüber liefert das Trio nun mit »German Engineering Vol. 1«. Ihr zweites Producertape nach ihrem selftitled Debüt aus 2020 kommt mit zwei Songs weniger aus als »KitschKrieg« und markiert offiziell den Wendepunkt des Künstler*innenkollektivs. »GE 1« ist in zwei Hälften aufgeteilt: Die ersten fünf Songs featuren upcoming UK-Artists, ab Song Nr. Sechs übernehmen aufstrebende US-Rapper*innen. Trotz dieser deutlich unterschiedlichen Verwurzelungen über einen ganzen Ozean hinweg klingt das Album erstaunlich rund und abgestimmt – und das liegt daran, dass KitschKrieg es wie kaum jemand in den letzten Jahren geschafft haben, einen Signature Sound zu etablieren, der unterschwellig immer so ein wenig im Mittelpunkt steht.

Helfen tut bei ihrem neuen Weg in jedem Fall, dass das Trio schon immer etwas internationaler klang und sich auch schon früher immer nach außerhalb orientiert hat. So fallen die Gäste auf »German Engineering Vol. 1« nicht etwa aus der Reihe, weil nach dem markanten K-K-K-Kitschkrieg nun kein Tretti mehr einsetzt. Viel mehr wirkt ein Rapper wie Anti Da Menace, der gleich zweimal in Erscheinung treten darf, so, als ob er schon seit 2016 auf dem KitschKrieg Film gewesen sei. Seine Songs bleiben im Ohr, am besten mit dem KK-Sound harmonieren aber Stefflon Don, Nemzzz & Skillibeng auf »Dance«. Dieser vibey Sound, den sie hier gemeinsam kreieren, muss genau das sein, was sich KitschKrieg von ihrem Aufbruch ins Ungewisse erhofft haben.
Höchst interessant ist auch 2Rare, der als Philly-Native und momentaner Jersey Club-Vorreiter auf dem Song »Track Star« dieses gehypte Subgenre vorstellt.

Dass das Album wohlwissend »German Engineering Vol. 1« getauft wurde, legt nahe, dass dies nur der Anfang war und die drei vermutlich gerade schon wieder mitten in den nächsten amerikanischen und englischen (oder vielleicht auch mal nigerianischen?!) Städten unterwegs sind und nach dem nächsten Talent suchen. Festzuhalten bleibt auf jeden Fall: Der Sound von KitschKrieg funktioniert immer noch bestens.

– Matthi Hilge