Levin Liam bleibt das Phänomen der Zeit – da sind sich Kritiker und Fans, Indie-Mäuse und Hip-Hop-Heads einig. Und auch er selbst lässt daran keine Zweifel, wie manch provokante Line unschwer verständlich macht: „Lass die doch den Sound kopieren, die kriegen ihn nicht zu fassen” (»nicht alles«) oder „Frag’ dein neues Signing, warum klingt sein Stuff wie der von mir?“ (»btw«) seien hierfür nur beispielhaft erwähnt. Nun hat Levin Liam sein allererstes Album »gesicht verlieren« veröffentlicht. Höchste Zeit, einmal genau unter die Lupe zu nehmen, ob das Debüt wirklich so wegweisend klingt, wie die großspurigen Lines es vermuten lassen.
Levin Liam – gesicht verlieren
Ein Schlussstrich zum Start
Eröffnet wird »gesicht verlieren« nicht vom Rapper selbst, sondern von der britischen Folksängerin Bridget St John. Stark herunter gepitcht hallen ihre Worte „I don’t know if I can take it anymore” auf »verseucht« immer wieder nach. Levin Liam und UK-Folk-Samples – ein Konzept, das schon auf »Uber X (Kathryn’s Song)« gut funktioniert hat, greift hier erneut. Die besagte Zeile empfängt einen bei jedem Durchlauf als Ruhepol, als Moodsetter und Startpunkt der musikalischen Reise. Levin Liam zeigt sich resigniert vor einem Scheideweg, eine Trennung steht unweigerlich bevor, sein Kopf ist »verseucht«, er könnte zwar noch, aber will »nicht mehr« und „will nur noch weg von hier”. Auf dem Bett liegen und an die Decke starren, schwere Atemzüge, nervöse Bewegungen, das Handy auf „nicht stören”, im Hintergrund tickt eine Uhr – so beginnt das Album. Analog zu dieser Stimmung kommen die ersten beiden Songs fast komplett ohne Drums aus.
Mit »rauch« gewinnt das Album allmählich ein neues Tempo. Die Schwere der ersten Songs ist noch spürbar, doch die Vocals sind weniger gehaucht und der Rhythmus zwingender. Auch wenn er sich in den Lyrics noch dagegen wehrt, ist es ein erster Schritt nach draußen. Wenn dann noch beiläufig 0176 auf „was ein Wunder wie der wächst“ gereimt wird, weiß man, dass hier ein Levin Liam in Topform aufläuft. Die anfängliche Sinnkrise ist allerdings noch nicht überwunden, wie »leben lang« und »trauen« untermauern. Beide Songs beschreiben eine Suche nach Halt und einen Zustand der Zerrissenheit zwischen Innerem und Äußerem, den man bereits auf den »Levin Liam Leaks 2023« mehrfach hören konnte. Insbesondere die Zeile
Es reißt mich in zwei, ich will, dass sich alles bewegt / Aber zur selben Zeit will ich, dass alles bestehen bleibt
leben lang
steht dafür exemplarisch und zeichnet vielleicht den Gipfel der lyrischen Tiefe des Albums. Denn viel persönlicher wird es nach dieser ersten Hälfte der Platte nicht mehr.
Eine neue Leichtigkeit
Mit »auf den« wird eine neue Phase typischer Levin-Liam-Leichtigkeit eingeläutet. Hier zeigt der Rapper sich dankbar für seinen neuen Lifestyle und liefert mit einem für den Beat perfekten Flow wahrscheinlich den Hit unter den Nicht-Singles. Es folgt »such mit mir«, der groovige Pop-Peak des Albums. Hier, in der ersten Singleauskopplung, gibt sich Levin Liam voll und ganz einer frisch entflammten Liebe hin. Die wird aber schon im folgenden Track nur noch zur Nebensache, denn auf »nicht alles« steht sein eigener Werdegang im Fokus und es wird zum ersten Rundumschlag ausgeholt. Auf einer schüchternen Baseline mit wechselnden Zusatzelementen rappt Levin Liam sich einiges von der Seele. Was im ersten Moment monoton wirken kann, entwickelt nach einigen Durchläufen große Wirkmacht, bringt es doch eins der Kernmotive des Albums, die Entwaffnung der Nachahmer, auf den Punkt:
Copycats, das Album hier ist meine Repercussion
nicht alles
In sehnsüchtig-nostalgischen »als wär alles normal« findet die über mehrere Tracks erzählte Liebesgeschichte ihr offenes Ende und macht den Weg frei für die abschließenden Brecher des Albums.
Zwei Paukenschläge zum Schluss
Nicht selten beginnen Alben ja mit einem Paukenschlag und enden in einem reflektierenden Outro. Levin macht auf »gesicht verlieren« das genaue Gegenteil. Eine Eigenheit, die zunächst gewöhnungsbedürftig ist, auf lange Sicht aber eine regelrechte Sucht entfacht. Mit Vorfreude hört man sich durch die Traurigkeit, die Zweifel, die Zurückhaltung und manchen Schmerz, um mit Ignoranz, Attitude und Kopfnickern belohnt zu werden.
Davon bieten »btw« und »aufwachen« nämlich eine ganze Menge. Hier zeigt sich so laut und unmissverständlich wie an keiner anderen Stelle, womit Levin regelmäßig angibt und seine Nachahmer abstraft. Die Schnoddrigkeit in Levins Performance und die geballte Klanggewalt der Beats erzeugen einen Sound, der in Deutschland tatsächlich keine Vergleiche kennt. Inhaltlich muss zwischen allem Flex zudem folgende Line erwähnt werden, die auch noch eine persönliche und sogar politische Ebene einfließen lässt:
Frag’ mein’n Therapeuten, ach ne, warte, hab’ ja kein’n / Suche weiter Platz, weil ich will mal ein guter Papa sein
btw
Der Vollständigkeit halber erwähnt werden, muss natürlich auch der Reezy-Part auf »aufwachen«, der nicht wirklich schlecht, aber leider sehr vorherseh- und austauschbar ausfällt und nicht besonders viel zum Song beiträgt.
Nichtsdestotrotz ist das Finale von »gesicht verlieren« im besten Sinne pompös. Levin Liam, der eigentlich sein Gesicht bewahren wollte, gibt für diesen Moment mal wirklich gar keine F*cks, holt alles aus dem selbst geflippten Instrumental heraus und was er da veranstaltet, klingt ganz ohne Tiefsinn, ohne doppelten Boden und mehrsilbige Reime schlicht und ergreifend dope!
Ein gelungenes Debüt
Von dieser Energie hätte das Album durchaus mehr vertragen können. Denn es sind am Ende in erster Linie die Singleauskopplungen, die solch starke Effekte erzeugen. Womöglich hat Levin Liam sich deshalb mit der Wahl und Menge der Singles für die Rezeption des Albums als Ganzem keinen großen Gefallen getan, denn im direkten Vergleich wirken die Nicht-Singles auf den ersten Blick mehrheitlich unspektakulär. Wer jedoch ein bisschen Geduld mitbringt, wird erkennen, dass es genau diese übrigen 5 Tracks sind, die für ein rundes Gesamtwerk sorgen.
Vielleicht ist es unter dem Gesichtspunkt gerade das Zurückgenommene, worin die Nicht-Singles ihr Spektakel finden, weil sie unaufdringlich, aber echt und vor allem stimmig genug sind, um die Hits schlüssig zu verbinden und das Album in Balance zu halten. Hierfür muss selbstverständlich auch die Produktion hervorgehoben werden. Das Team um Barksy, Rascal und Levin Liam selbst (als Executive Producer) hat mit vielen verspielten Details, geschickten Übergängen, Samples, Streichern und Gitarrensoli eine einnehmende Soundwelt geschaffen, die aufmerksames Hören belohnt.
Im Wissen über seine bisherige Diskografie, insbesondere nach Songs wie »Geh nicht ran« oder »so k.o.«, hätte man für das Debüt dennoch ein konkreteres Storytelling, mehr Nähe und Verletzlichkeit erwarten können. Auch ein neues, der zuvor auf jedem Tape vertretenen, Signature-Skits (»Holger Skit«, »unentschieden skit«, »Zoom Skit«), das zur Erzählung und Struktur der Platte hätte beitragen können, sucht man leider vergeblich.
Doch selbst wenn »gesicht verlieren« noch persönlicher, noch tiefgreifender und noch ambitionierter anmuten könnte – ein rundes Gesamtwerk und eine musikalische Reise mit hohem Replay-Value ist es allemal. Es ist ein gelungenes Debütalbum und wird damit, ob es Levin Liam gefällt oder nicht, sicherlich auch neue Copycats heraufbeschwören.