Hip-Hop vom Mittelmeer – Ein Überblick über die griechische Szene

Ski Aggu spielt eine (kleine) ausverkaufte Tour in den USA, KITSCHKRIEG hüpfen hin und her über den großen Teich und Luciano oder Ufo361 machen regelmäßig Features mit Größen wie Central Cee oder Future. Dennoch beschränkt sich die Sicht deutscher Artists und Musikkonsument*innen im internationalen Raum, eben meistens auf die USA oder UK, und vielleicht noch spanisch- und französischsprachige Länder. Doch was geht eigentlich in der griechischen Musikwelt? 

Ich habe die letzten acht Monate in Athen verbracht und konnte dabei viele Eindrücke von der griechischen Musikszene sammeln. Im Rahmen dessen habe ich unter anderem mit dem Produzenten Stolou gesprochen, um mir am Beispiel seines Kollektivs Wake & Bake ein genaueres Bild zu verschaffen. Außerdem werde ich zum Ende des Beitrags eine kleine Auswahl an griechischen Künstler*innen vorstellen, die die dortige Szene angemessen repräsentieren. 

Wie bereits im »KONTRABAND« Artikel erwähnt, gibt es in Griechenland einen Teil der Hip-Hop-Szene, der sich mit dem Label „Untergrund“ beschreiben lässt. Geprägt von Boom-Bap geht es viel um linkspolitische Themen, wobei die Artists, z.B. Stolen Mic oder 0-100 seirene, auch oft auf politisch motivierten Events wie Demonstrationen oder Veranstaltungen an Universitäten auftreten (und das meistens sogar gratis). Der andere Teil der Hiphop-Szene strebt eher danach, im Mainstream erfolgreich zu sein. Mit dem Wunsch nach kommerziellem Erfolg im Vordergrund werden künstlerische Aspekte wie Originalität meist zurückgestellt. 

In Griechenland lebt fast ein Drittel der Bevölkerung in der größten Stadt Athen (ca. 3,1 Mill.). Das daraus resultierende musikalische Epizentrum in der Hauptstadt führt in Kombination mit der schwachen Wirtschaftslage zu einem finanziellen Druck, der von Seiten der Major-Labels Artists dazu drängt, in der breiten Masse Erfolg zu haben und sich dafür marktwirtschaftlichen Richtlinien anzupassen. Der Wettbewerb, vor allem innerhalb Athens, ist intensiv und wer aufgrund seiner unkonventionellen Art aus dem Raster fällt und nicht direkt auf Zuspruch trifft, bleibt schnell außen vor. Das Risiko, anders zu sein, ist demnach um einiges höher. 

Clubshows und Komfort

Eine weitere Besonderheit ist, dass die populäre Rapmusik in Griechenland aktuell sehr auf die Clubs ausgerichtet ist. Richtige Touren, wie man sie andernorts kennt, sind eher eine Seltenheit. Als Konsequenz dessen werden Songs oft direkt mit diesem Ziel „hergestellt“ und kommen deshalb sowohl vom Sound als auch den Lyrics her oft nicht über die gewünschte Clubatmosphäre hinaus. 

Laut Stolou ist dies ein generelles Problem in Griechenland. Insbesonders große etablierte Künstler machen es sich leicht und wiederholen stetig das, was schon einmal funktioniert hat und verlassen dabei nicht ihre Komfortzone. Seiner Meinung nach wäre dies aber nötig, vor allem um außerhalb von Griechenland erfolgreich zu sein. Wenn man den Mut hat, musikalische Grenzen zu durchbrechen und neue Dinge auszuprobieren, kommt das (in den meisten Fällen) der musikalischen Qualität zugute.  

Dennoch gibt es auch in Griechenland zahlreiche Artists, deren Ziel es ist, neben der griechischen auch die internationale Hörerschaft zu erreichen und ihre Geschmäcker zu prägen. Alle von den hier aufgelisteten Acts testen regelmäßig Genregrenzen aus und bringen ihre eigene individuelle Note mit.

Wake & Bake 

Foto via @giannis.redlight

Stolou, Gründer des Kollektivs, wuchs in einer Kleinstadt in der Nähe von der zweitgrößten Stadt des Landes, Thessaloniki, auf. Nach jahrelangem Klavierunterricht begann er mit 18 das erste Mal, für seinen Kindheitsfreund RSK zu produzieren und baute seine eigene Karriere im Laufe eines Studiums in Thessaloniki professionell aus. Angetrieben von dem Wunsch nach Selbstbestimmung gründete er 2023 zusammen mit XIX, GXHAN, Twelvee, Xxhtos und eben jenem RSK das Kollektiv Wake & Bake 

Seit ihrem ersten gemeinsamen Release Ende 2023 mit »STIN MAMA MOU« (Twelvee & Stolou) schlagen sie mit ihrer unkonventionellen und humoristischen Art Wellen im griechischen Hip-Hop.

Es zeigen sich außerdem gewisse Parallelen zu Gruppierungen wie BHZ: Auch die Mitglieder von Wake & Bake folgen jeweils ihren eigenen Stilvorstellungen, harmonieren aber trotzdem untereinander.

Foto via @akim.ts98

Ob auf Xxhtos 2024 erschienenem Album »Εκ’ Φύσεως«, was deutlich melodischere und Indie-orientierte Facetten hat oder auf GXHANs Debütalbum »APOPSI«, was von D’n’B (»ULTRA+«) bis zu 2000er 50 Cent-Vibes (»Jiggy«) alles zu bieten hat, lässt sich ein Wille erkennen, Genregrenzen links liegen zu lassen und internationale Standards zu erreichen.

Ich glaube, das ist es, was uns von den anderen unterscheidet: Alle machen Musik, um dem Durchschnittspublikum zu gefallen, während wir Musik machen, um unserem eigenen Geschmack zu entsprechen. Anscheinend ist außer uns keiner dazu bereit.

Stolou über das Alleinstellungsmerkmal von Wake & Bake

Dies passiert aber noch nicht flächendeckend auf allen Tracks. Das Potenzial, Musik zu machen, die trotz der Sprachbarriere aufgrund der Energie, der Flows und der Gesamtästhetik überzeugt, ist trotzdem auf jeden Fall vorhanden. 

Kareem Kalokoh und Moose

Foto via @apng_

Die beiden Athener mit westafrikanischen Wurzeln haben in der Vergangenheit schon oft kollaboriert. 2024 haben sie sich für das gemeinsame Projekt »BOOTCAMP« zusammengetan, von dem vor einigen Wochen die Deluxe-Version erschienen ist. 

Auf dem Tape liefern sie einen frischen Trap-Sound, der, angelehnt an amerikanische Vorbilder wie Metro Boomin oder Travis Scott, sich durch deutlich aggressivere Drums vom Original abhebt. Zudem möchten sie in ihren Tracks die tatsächliche, oftmals raue Athener Lebensrealität zeigen, fernab vom touristischen, in den Medien publizierten Ideal.

Foto via @apng_

Obgleich es sehr erfrischend ist, so eine Musik endlich mal auf Griechisch zu hören, fehlt abgesehen von der kreativen Art mit ihren Vocals zu spielen die individuelle Note, um sich von bereits genannten internationalen Vorbildern noch abzuheben. Trotzdem merkt man den beiden ihre Freude an der Musik an und national findet sie auf jeden Fall gehörig Anklang. »BOOTCAMP« haben sie bereits in mehreren griechischen Städten wie Thessaloniki, Patras und Athen erfolgreich live präsentiert. 

Marina Satti

Foto via Presse

Marina, die einigen wahrscheinlich durch ihren ESC Beitrag für Griechenland letztes Jahr ein Begriff sein sollte, lässt sich nicht hundertprozentig dem Hip-Hop zuordnen, gehört aber trotzdem irgendwie dazu. Auf den Stützen einer jahrelangen (klassisch-)musikalischen Ausbildung vereint sie gegenwärtige Trap- und Hip-Hop Elemente mit klassischem Balkan-Sound, womit sie vor allem innerhalb Griechenlands noch oft aneckt. 

Das liegt aber auch daran, dass sie ihre Plattform als eine DER griechischen Künstlerinnen in dem immer noch stark konservativen Land nutzt, um Geschlechtervorstellungen und etablierte benachteiligende Strukturen aufzuzeigen, zu kritisieren und zu durchbrechen. Häufig geht sie auch innerhalb ihrer Songs selbst auf die oft absurde Kritik griechischer Journalisten ein und macht sich gekonnt über sie lustig. 

Δηλωμένο flop, flop, flop – Τι να πούνε τώρα; Κοιτάει όλη η χώρα.

Marina Satti – MIXTAPE

sinngemäße Übersetzung: „Εs wurde zum Flop erklärt. Was sollen sie jetzt sagen, wo das ganze Land zuschaut.“

Das letztes Jahr erschienene Tape »P.O.P« folgte einem kohärenten Klangbild, das stark von unkonventionellem Balkansound geprägt ist. Die gewaltigen Produktionen, in denen ruckartig traditionelle und moderne Einflüsse aufeinanderprallen, können zunächst überfordern wirken und erfordern daher manchmal ein wiederholtes Hören. Der jüngst erschienene Nachfolger »POP TOO« ist geprägt von verschiedenen Stilen des Pop: Von nostalgischem Rock-Pop bis hin zu zeitgenössischem Hyper-Pop und Jersey Club hat Marina keine Scheu zu experimentieren.

Foto via Pinelopi Gerasimou

Selbst wenn ihre Musik, die oft auch als griechische ROSALÍA bezeichnet wird, manch einem zu sperrig sein mag, ist Marina nicht ohne Grund die erste Person, die mit einem griechisch-sprachigen Song (»ZARI«) global gechartet ist. 

Negros Tou Moria

Foto via Nikolas-Petros Androbik

NTM oder auch Black Morris ist ein in Athen geboren und aufgewachsener Künstler mit ghanaischen Wurzeln und einer der einzigartigsten und einflussreichsten Rapper Griechenlands, der auch international viel Anklang findet. 2017 ist er zum Beispiel mit seinem Projekt Black Odyssey bei der documenta in Kassel aufgetreten. 

Ähnlich wie Marina Satti verbindet er traditionellen griechischen Folk, in dem Fall Rebetiko, eine Musikrichtung, die auch als „griechischer Blues“ bezeichnet wird, mit modernem Trap und Hip-Hop. Das Resultat ist ein neues Genre namens „Trapbetiko“. Innerhalb der oft von einer Bouzuki (ein klassisches griechisches Saiteninstrument) begleiteten Rhythmen, spricht er gesellschaftliche und politische Missstände an. Dabei richtet er den Scheinwerfer auf die wenig in den Medien behandelten Erfahrungen der Afrogriechen und der Suche nach Identität in einem Land, das ihnen mit Ablehnung begegnet. 

Foto via Theodore Manolopoulos

Er ist einer der Rap-Künstler*innen, die am meisten griechische Kultur in ihre Musik und ihre generelle Erscheinung einbauen. Oft tritt er in traditioneller Kleidung wie Tsarouchia-Schuhen und Fustanella-Faltenrock auf. Zudem samplet er wiederholt alte Songs des Rebetikos, ein Genre, in dem die härteren Lebensrealitäten marginalisierter Subkulturen Ausdruck finden. Ein Beispiel hierfür ist sein Track »Stin Ypoga«. Zusammen mit Rapper Hatemost schafft er eine Neuinterpretation, des gleichnamigen Rebetiko-Klassikers.

Das Paradoxe wiederum ist, dass er trotz dessen immer noch nicht die griechische Staatsbürgerschaft hat, da in Griechenland das Abstammungsprinzip gilt. Dieser Widerspruch dient als Grundpfeiler seiner Kunst.

Anfang April erschien mit »MAVRI ELLADA« sein siebtes Studioalbum. Vom Guardian zum globalen Album des Monats ernannt, ergänzt er auf dem Album seinen bekannten Sound mit Einflüssen wie RnB, G-Funk und Afrobeats und kann dabei, wie so oft, mit seinen mühelosen Flows und der basslastigen Stimme überzeugen.

Hip-Hop zählt, wie überall auf der Welt, aktuell zu einer der populärsten Musikrichtungen in Griechenland. Trotzdem erfahren das Genre und insbesondere Artists, die sich trauen, sich gegen Konventionen hinwegzusetzen, dort wenig Förderung. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum es sich aber lohnt, genau diese Künstler:innen im Auge zu behalten. Von Acts, die die weit zurückgehende griechische Musikkultur mit modernen Einflüssen kombinieren, bis zu denen, die im Stil des zeitgenössischen Hip-Hops griechische Bräuche und Lebensweisen reflektieren. Live könnt ihr das übrigens auch erleben. Marina Satti wird im Rahmen ihrer „POP TOUR“ nämlich im September für drei Shows nach Deutschland kommen.