Gut Song will Weile haben: Grower-Tracks mit langer Halbwertzeit


Bei manchen Songs oder Alben macht es beim ersten Hören „Klick“ und man weiß direkt, dass die Musik einem gefällt. In Deutschland hatten vor drei Jahren viele diese Erfahrung mit Paula Hartmanns Debütsingle und dem gleichnamigen Debütalbum »Nie Verliebt. Den Gegenpol dazu liefern Projekte wie z.B. Playboi Cartis »Whole Lotta Red« und Tyler the Creators »IGOR«, die anfangs noch verhöhnt und missverstanden wurden, sich aber mit der Zeit zu wahren Fan-Lieblingen entwickelt haben. Releases dieser Art werden oft als „Grower“ bezeichnet und zeichnen sich typischerweise durch einen avantgardistischen und unkonventionellen Stil aus. Wir haben 6 solcher Songs zusammengetragen. 

Souly – Woah

Mit »Woah« als zweite Single leitete Souly vor knapp zwei Jahren gebührend die »Ich wünschte, es würd’ mich kümmern« Ära ein. Bestehend aus einem Trap-Loop mit gechopptem Vocal-Sample, ironischen kreativen Punchlines, Referenzen zu seiner italienischer Herkunft und einem Camcorder Musikvideo, das irgendwo in Kalifornien gedreht wurde, handelt es sich hier eigentlich um einen klassischen Souly-Track. 

Sind wir bei den Simpsons? Deine Bitch sieht aus wie Homer, ja/
Hol’ mir deine Seele und deswegen heiß’ ich Souly, ja

Woah

Beim ersten Hören empfand ich seinen individuellen Stil, der sich mitunter von seinen vorherigen Releases abhebt, als etwas ungewohnt und teils auch unangenehm. Wegen der Simpson-Line im zweiten Part, bei der ich jedes Mal stark schmunzeln muss, bin ich zum Glück dran geblieben und habe nach ein paar weiteren Hördurchgängen dann doch seine Vision für das Projekt verstanden. 

Kendrick Lamar & AzChike – peekaboo

Das erste Hören von »GNX«, ganz kurz nach dem Surprise-Drop im November, war ein Erlebnis: Das Intro baut sich beinahe episch auf und ordnet sein erfolgreichstes musikalisches Jahr überhaupt ein, die lang erwartete Single »squabble up« ist endlich da, Kendrick spricht auf »reincarnated« mit dem Teufel und dann – »peakaboo«. „Whattheytalkinbouttheytalkboutnothin“, „Bim Bap Boom“? Was will dieser AzChike mit seinem Finger machen? Was ist dieser Song? 

Es dauert vielleicht drei, vier Hördurchgänge und auf einmal landet »peakaboo« im On Repeat von Spotify ganz oben. In einem Album, das Kendrick so losgelöst wie selten zeigt, ist dieser Song der vermutlich losgelösteste und nistet sich gerade wegen der angesprochenen Quotables so besonders im Kopf fest. Den Rest übernehmen ein paar Meerschweinchen bei der Fütterung.

Haiyti – kokaina

Bei dem Songtitel liegt es nicht fern, zuerst mal die Melodie des 10er-Jahre Überhits von Miami Yacine im Kopf zu haben, der wiederum vom Konzept des Growers kaum weiter entfernt sein könnte. Unser Pick von Haiyti funktioniert konträr dazu um einiges reduzierter und lädt mehr zum Mitfühlen als -grölen ein. Im Mittelpunkt steht der Refrain aus schmerzverzerrten, serbokroatischen Lines, deren Bedeutung sich auch ohne inhaltliches Verständnis gut erschließt. Die Geschichte ist nicht neu, die Perspektive der Verletzten im Abgrund aus Drogen und Liebe typisch für Haiyti. Doch der Art und Weise, wie sie auf der sphärischen Produktion ihre flehenden Autotune-Vocals in die Leere zwischen Zeit und Raum ruft, tut der Status als am wenigsten gestreamter Song auf dem (zugegeben starken) Album »influencer« unrecht. Je öfter man ihn hört, desto stärker hitten all die kleinen Melodien und Momente des Tracks.

Shindy – Crispy

Ein scheppernder OZ-Beat und Shindy auf seinem maximalen Überheblichkeitsfilm – was will man mehr? Nun ist »Crispy« darüber hinaus auch noch mit diversen Flowswitches, mächtigen Reimketten und filigranen Stilmitteln beladen. Die textliche Struktur mag gerade zu Beginn des ersten Parts ein bisschen verkopft sein, seine betonte Lässigkeit geht darüber aber kein bisschen verloren. 


Wer sich den Weg durch das Dickicht bahnt und ein paar Mal genauer hinhört, wird umso mehr belohnt. Es verstecken sich Zeilen in dem Track, die sonst niemand in Deutschland kicken könnte und die Shindys Ignoranz so sehr rechtfertigen wie kaum ein anderer Song in seiner Diskografie. Wer hier einmal eintaucht, fühlt sich mit jedem Durchlauf ein Stück „extra crispy“, was auch immer das bedeuten mag.

Tua – Gloria

Fairerweise sei gesagt: Tua ist einer dieser Künstler*innen, wo viele Songs sich erst nach einigen Durchläufen so richtig entschlüsseln lassen. Doch gerade sein selbstbetiteltes Album aus 2019 hat mit »Vorstadt« oder »Wem mach ich was vor« eigentlich einige recht eingängige Songs parat. Nicht so »Gloria«. 

Dabei fängt der Sechsminüter recht klassisch an: das albumumspannende gesprochene Intro, drückende Parts, voluminöse Drums. Doch zunehmend gerät der Song in ein mehraktiges Drama, das immer abstrakter greifbar scheint. Das endlos wiederholte „Hass – Liebe – Hass“ von Tarek K.I.Z, die wie aus einer anderen Atmosphäre klingenden Vocals von Wanja Janeva, zwischen denen ein im Hintergrund verzweifelnder Tua sich Gehör verschaffen will. Man muss es mehrfach hören, doch »Gloria« wirkt – gerade durch das Wellenrauschen gegen Ende – wie aus einer anderen Welt.

070 Shake – Cocoon

070 Shake ist bekannt für ihre vielschichtigen, synth-geladenen Hymnen mit emotionalem und sphärischem Sound. »Cocoon«, der Teil ihres zweiten Studioalbums »You Can’t Kill Me« ist, wirkt mit seinem unmittelbar einsetzenden und unruhig paukenden Bass, im Vergleich zu ihrem üblichen Stil, zunächst unvertraut. Gepaart mit hypnotischem Gesang und düsteren, ruhelosen Synths wächst der Track in der Hook über seinen sperrigen Sound hinaus und lässt pures Chaos walten. 


Wie ein Schmetterling, der zunächst noch in seinem Kokon gefangen ist, lässt 070 Shake im Anschluss all ihrem Frust, ihrer Verwirrung und Wut freien Lauf. Jeder, der sie seit dem Release schon mal live gesehen hat, wird bezeugen können, dass »Cocoon«, zumindest stimmungsmäßig, eins der Highlights ihrer Shows ist. Der Song scheint nicht nur bei uns Anklang gefunden zu haben: Paula Hartmann, die bekanntlich ebenfalls Fan von ihr ist, releaste letztes Jahr mit ihrem zweiten Album »kleine Feuer« die Single »Candy Crush«, deren Bassline von »Cocoon« inspiriert zu sein scheint.