Manche Hip-Hop-Alben erzählen Geschichten, die so cineastisch sind, dass man glaubt, im Kino zu sitzen. Über urbane Kung-Fu-Kämpfer, belgische Krimis und David Lynch.
Einige Hip-Hop-Alben sind mehr als nur Musik. Sie sind akustische Kinofilme, die ganze Welten erschaffen, Geschichten aufbauen und ihre Hörer*innen in hollywoodreife Szenarien katapultieren. Während manche Platten sich anfühlen wie düstere Noir-Thriller, entfalten andere die Melancholie von Arthouse-Filmen oder die Wucht actiongeladener Blockbuster.
Ein Beispiel dafür sind die Alben des Hamburgers Ahzumjot: Schon mit seinem letzten Album »WINTER TAT WEH« zeigte er, wie Konzept, Musik und visuelles Storytelling verschmelzen können. Passend zum Album inszenierte er kurze, atmosphärische Filmsequenzen, welche die Songs in bewegten Bildern einrahmten. Nun setzt er diese Vision fort: Sein letzte Woche erschienenes Album »FRANCIS« – der zweite Teil einer geplanten kinematischen Album-Trilogie – wird bereits von drei rätselhaften „Akten“ auf YouTube begleitet. Diese Mini-Epen erzählen eine kurze, aber tragische Geschichte und machen gespannt auf die Platte.
Solche Verbindungen von Konzept, Sound, Atmosphäre und Storytelling waren auch in der Hip-Hop-Geschichte sehr wichtig, denn sie machen einige der bedeutendsten Hip-Hop-Alben zu hörbaren Filmen:
Wu-Tang Clan – »Enter the Wu-Tang (36 Chambers)«: Ein Kung-Fu-Film als Rap-Album
Das Debütalbum »Enter the Wu-Tang (36 Chambers)«, des Wu-Tang Clan ist ein Meisterwerk, das den Hörer*innen die rauen Straßen von New York vor Augen führt. Der Titel selbst ist eine Anspielung auf den Martial-Arts-Klassiker »The 36th Chamber of Shaolin« aus dem Jahr 1978. Und genauso wie die Kampffilme der 70er Jahre fühlt sich das Album auch an: dreckig, roh und voller verrückter Wendungen. Die musikalische Cineastik des Albums zeigt sich besonders in der Verwendung von Samples aus Kung-Fu-Filmen. Diese Samples fungieren wie Szenenübergänge in einem Film und verstärken das Gefühl, eher einen Film als ein Album zu erleben.
Die MCs des Clans verkörpern dabei jeweils verschiedene Charaktere, jeder mit seinem eigenen Stil und seiner eigenen Philosophie – ähnlich wie die Kämpfer in Kung-Fu-Filmen. RZAs Produktionen schaffen eine düstere Atmosphäre, die an die engen Gassen und verfallenen Gebäude erinnert, in welchen die Geschichten spielen. Die knisternden Soul-Samples und staubtrockenen Drums erschaffen mit den filmischen Kung-Fu-Bites eine ganz eigene Welt. Tracks wie »C.R.E.A.M.« und »Protect Ya Neck« wirken wie Szenen eines urbanen Kung-Fu-Films, in denen die Protagonisten um Überleben und Erfolg kämpfen.
Das Album erzählt keine lineare Geschichte, sondern präsentiert eine Reihe von Szenen, die zusammen ein umfassendes Bild des Lebens Staten Island zeichnen. »36 Chambers« ist wie ein Indie-Film, der durch seine Rohheit und Energie besticht – fast wie ein Tarantino-Streifen.
Tua – »Grau«: Arthouse-Deutschrap
Tuas lässt uns auf »Grau« in eine neblige, melancholische Welt eintauchen. Es ist kein gewöhnliches Deutschrap-Album, sondern vielmehr ein arthousiger, vertonter Mindfuck-Film. Die Platte schafft es durch abwechslungsreiche Klanglandschaften und tiefgründige Texte, eindrucksvolle Bilder und zu transportieren. Das Album ist gehüllt in eine dichte, fast greifbare Atmosphäre, sodass sich jeder Song anfühlt wie eine Szene aus einem düsteren Arthouse-Film. Es geht um Depression, Selbstzweifel, Sucht und Identität – und das in einer Soundlandschaft, die zwischen verschiedensten Genres hin und her schwankt.
Gleich auf dem Opener »Es regnet« nimmt Tua den Hörer mit in eine dunkle, versmogte Seitengasse, in der es keinen Funken Optimismus gibt. Tracks wie »Für immer« wirken wie ergreifende Monologe eines Protagonisten, der mit inneren Dämonen und existenziellen Fragen ringt. Die musikalischen Arrangements sind unvorhersehbar und beklemmend, was ein Gefühl erzeugt, als würde man ein David-Lynch-Werk sehen. »Grau« ist wie ein poetischer, innerer Film. Es ist ein Soundexperiment, das sich anfühlt wie ein surreales Drama über das innere Chaos – der „Arthouse Movie“ unter den Deutschrap-Alben.
Kendrick Lamar – »good kid, m.A.A.d city«: Hollywood reifes Storytelling
Kendrick Lamars »good kid, m.A.A.d city« ist ein Paradebeispiel für ein cineastisches Hip-Hop-Album und wurde sogar als „Shortfilm by Kendrick“ vermarktet. Es erzählt die Geschichte eines jungen Kendrick, der in den Straßen von Compton aufwächst, und präsentiert diese mit einer Detailliertheit, die jedes Setting verbildlicht. Jeder Song fungiert wie eine Szene, die die Geschichte vorantreibt. Interludes und Skits in Form von Voicemails und Gesprächen dienen als Übergänge und geben zusätzlichen Kontext, ähnlich wie Zwischensequenzen in einem Film.
Tracks wie »The Art of Peer Pressure« und »m.A.A.d city« wirken wie Action-Thriller-Szenen, die den Hörer mitten ins Geschehen werfen. »Sing About Me, I’m Dying of Thirst« ist einer dieser Momente, in denen der Film zum Drama wird. »good kid, m.A.A.d city« ist ein akustischer Film, der die Grenzen zwischen Musik und Storytelling verwischt. Kendrick Lamar beweist hier sein Talent als Regisseur seiner eigenen Geschichte, die er mit einer Eindringlichkeit erzählt, die man sonst nur aus Filmen wie Boyz n the Hood (1991) oder Menace II Society (1993) kennt. Passend zum Album ist auch ein 15-Minütiger Kurzfilm erschienen, welcher den Alltag Compton porträtiert.
OG Keemo – »Mann Beisst Hund«: Ein düsterer Noir-Thriller
Ein Konzeptalbum, das durch seine Erzählstruktur und atmosphärische Dichte besticht, ist OG Keemos und Funkvater Franks »Mann Beisst Hund«. Auch wenn es laut den beiden eher ein Zufall ist, teilt sich die Platte ihren Namen mit dem belgischen Kultfilm »Man Bites Dog«. In diesem geht es um einen Serienmörder – und genauso unbarmherzig und schonungslos ist auch dieses Album. Die filmische Qualität des Albums zeigt sich in den sorgfältig erzählten Geschichten. Jeder Track fungiert wie eine Szene aus einem düsteren Gangsterdrama, ähnlich wie New Jack City. Keemos detaillierte und bildhafte Texte lassen die Umgebung und die Ereignisse vor dem inneren Auge des Hörers lebendig werden. Er rappt mit einer Wucht, als würde er einen Monolog in einer finsteren HBO-Serie halten.
Auf »Anfang« werden die wichtigsten Charaktere in die Story eingeführt, um dann im weiteren Verlauf ihre Rolle einzunehmen. Die Schlüsselszene des Albums ist allerdings der Track »Vögel«, auf welchem Keemo als einer der Protagonisten seine Lebensgeschichte in etwa sechs Minuten presst. Wie viel davon wirklich autobiografisch ist, bleibt offen. Funkvater Frank liefert den perfekten Soundtrack: düstere Samples, treibende Drums, die wie der Puls eines nervösen Protagonisten klingen. Der bedrückende und wummernde Sound der Platte unterstützt die filmische Qualität, indem sie eine dichte, oft bedrohliche Atmosphäre schafft. »Mann Beisst Hund« wirkt wie ein akustischer Neo-Noir-Thriller, der die Grenzen zwischen Musik und Storytelling verwischt und an Klassiker wie La Haine erinnert.
Childish Gambino – »Because the Internet«: Ein multi-mediales Kunstwerk
Über die Grenzen der Musik ging Childish Gambino mit dem Release von »Because the Internet«. Es ist ein multimediales Konzeptalbum, das Musik, Film und Text vermischt. – und so ein ganz eigenes Universum bietet. Er veröffentlichte das Album gemeinsam mit einem auf die Platte abgestimmten 72-seitigen Drehbuch. Zusätzlich hat Glover passende Kurzfilme produziert. Die Tracks erzählen eine Geschichte, welche sich allerdings nicht sofort erschließt. Aber genau das macht sie so interessant.
So wirkt der Song »Sweatpants« wie eine selbstironische Szene in einem Coming-of-Age-Film, während »3005« die existenziellen Ängste eines Protagonisten einfängt, der nicht weiß, wo er hingehört. Die Produktion ist futuristisch, verzerrt, surreal, manchmal poppig, als würde man durch verschiedene Zeitebenen eines Films springen. Die verschiedenen Elemente des Projekts – Musik, Skript, Videos – sind wie Puzzleteile, die zusammen ein umfassendes Bild ergeben. »Because the Internet« ist ein Werk, das die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters voll ausschöpft.
Apsilon – »Haut wie Pelz«: Ein sozialkritischer Dokumentarfilm
»Haut wie Pelz«, das Debütalbum von Apsilon, ist ein eindrucksvolles Werk, welches besonders durch seinen Tiefgang hervorsticht. Auf den 37 Minuten Spielzeit zeichnet er ein detailliertes Bild vom Leben als Gastarbeiterkind im Berliner Stadtteil Moabit. Apsilon macht auf »Haut wie Pelz« also keine Witze. Das Album ist ein Blick in die harte Realität vieler Menschen, die sonst in der Gesellschaft übersehen werden.
Es geht um Migration, Identität und Klassismus. Apsilon erzählt seine Geschichten aber nicht mit Pathos oder erhobenem Zeigefinger, sondern mit der Dringlichkeit eines investigativen Dokumentarfilms. Und wie es sich für einen guten Film gehört, gab es sogar zum Release eine Kino-Tour. »Haut wie Pelz« ist nicht nur ein Album. Es ist eine akustische Dokumentation, die das moderne urbane Leben einfängt. Es fordert den Hörer heraus und regt Nachdenken an – ganz so wie eine Arte-Dokumentation über die Straßen Moabits.
Diese Alben beweisen, dass Hip-Hop weit über Musik hinausgeht und ein Medium für ergreifende Geschichten, visuelle Erlebnisse und tiefe Emotionen ist. Wie in einem guten Film ziehen die Protagonist*innen die Hörer*innen in ihre Welt, fesseln sie mit ausgefeilter Dramaturgie und lassen Bilder entstehen, die noch lange nachwirken. Ob düsterer Noir-Thriller, introspektives Arthouse-Drama oder sozialkritische Dokumentation – Hip-Hop kann all diese Facetten abdecken.