Alben des Monats | Februar 2022

Über zu wenig Musik konnten sich Deutschrapfans im Februar nicht beschweren. Auch weiterhin bleibt der Output der Künstler und Künstlerinnen hoch und jeden Freitag aufs Neue füllen sich die einschlägigen Playlisten mit neuer Musik.

Die Highlights dieses Release-Marathons findet ihr wie immer in den Alben des Monats feinsäuberlich zusammengestellt. Dieses Mal mit dabei, das langersehnte neue Album von Casper. Rechnet man das Kollabo-Album »1982« mit Marteria mit ein, dann konnte Casper damit auch auch über zehn Jahre nach dem Release von »XOXO« nun das fünfte Nummer-1 Album in Folge verbuchen.

Ebenfalls mit dabei ist LUVRE47, der mit seinem Debütalbum »Herz« einen erfolgreichen Einstand in die Szene feiern konnte und mit schonungslos ehrlichem Storytelling über Chancenungleichheit und soziale Benachteiligung in Problemvierteln beeindruckt.

Genauso ehrlich, nahbar und teilweise auch verletzlich zeigt sich auch YRRRE auf seinem Zweitlingswerk »Feinstaub«. Ausgestattet mit einem feinem Gespür für das Subtile im Zwischenmenschlichen, die Nuancen, die feinen Zwischentöne, textet kaum jemand so reflektiert, authentisch und nahbar wie YRRRE. Das Potential ist da, der Beweis wurde abgeliefert und Kritiker und Szenekenner sind überzeugt.

Casper – ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH

Albumcover »ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH«

Wer dachte, dass die Zeit zwischen »Hinterland« und »Lang lebe der Tod« schon das Maximum an Wartezeit zwischen zwei Casper-Alben sein könnte, wurde eines Besseren belehrt: »Alles war schön und nichts tat weh« ist viereinhalb Jahre nach der Veröffentlichung der letzten Casper-Soloplatte erschienen und hat nicht nur durch die lange Warte- sondern auch Promozeit einiges an Erwartungen an sein mittlerweile fünftes Album geschürt.  Mit jedem Mal wachsen die Ansprüche, mit jedem Mal versucht sich Casper neuen und alten Einflüssen hinzugeben und sie in seine ganz eigene Rezeptur einfließen zu lassen. Und deshalb gibt es wieder viel zu entdecken: Waren es beim Vorgänger noch Nine Inch Nails und Run The Jewels oder Arcade Fire und Frank Turner bei »Hinterland«, die maßgeblich als Inspiration für den jeweiligen Sound des Albums dienten, sind es bei »AWSUNTW« Einflüsse die von weichem Ambient á la Bon Iver bis zu sich aufbauendem und dann explodierendem Postrock reichen. Man braucht nicht die Arte Tracks Episode mit ihm als Gast oder seine semi-regelmäßig geupdateden Top 10 Albenlisten zu sehen, um zu wissen: Casper lebt Musik. Und er versucht so viel es geht davon aufzusaugen, um sein nächstes Projekt wieder gänzlich anders zu konzipieren als das vorherige. In diesem Fall ist es eine 180 Grad Kehrtwende, denn nach dem Stacheldraht-Album »Lang lebe der Tod« sollte ein Blumenalbum an der Reihe sein.

Das kommt mit elf Tracks (und einem Prelude), die im Gegensatz zu dem großflächigen Vorgänger deutlich gefühliger sind. Da sind die grandiosen Fortsetzungen der »Vergessenen«-Parts, die das Außenseiter-Leben auf dem Dorf wie zu besten XOXO-Zeiten sozialkritisch einfangen, da sind aber auch Songs wie »Billie Jo« und der 7 Minuten-Closer »Fabian«, die auf eindringliche Art und Weise Geschichten von Leben und Tod erzählen. Auf diesen Tracks glänzt Casper am meisten – es sind allesamt Solosongs. Auch die Featuretracks, von denen es insgesamt fünf Stück gibt, sind zumeist stark, machen aber aufgrund der riesigen Varianz in den einzelnen Gästen manchmal einen Hauch zu viel Durcheinander im Gesamtwerk. Mit Beatsteaks-Sänger Teute über die Indie-Helden der Stunde Provinz und Popstar Lena bis zu der momentan angezählten Rapperin Haiyti hat Casper einige unerwartbare Features präsentiert – und damit teilweise Passagen im Album hervorgebracht, die mindestens mehrfaches Hören und ein Einlassen auf die Zusammenarbeit erfordern.  Allen voran aber das Tua-Feature »TNT« schließt sich nahtlos in den Flow des Albums ein und auch Mehrfach-Kollaborateur KUMMER harmoniert wie gewohnt prächtig mit Casper.

Das Warten auf »Alles war schön und nichts tat weh« hat sich definitiv ausgezahlt. Die Detailarbeit, mit der über die vergangenen Jahre an dieses Album herangegangen wurde, ist spürbar in jeder Zeile und jedem Ton.

Matthi Hilge

LUVRE47 – HERZ

Albumcover »HERZ«

In einem zunehmend auf Singles und Playlisten ausgerichteten Musikmarkt haben es Alben immer schwerer. Auch LUVRE47, der seit 2017 ständig neue Tracks und EPs herausbringt, konnte sich ohne diesen lange unverzichtbaren Karrierebaustein bereits einen beachtlichen Katalog aufbauen. Wer den Charlottenburger schon länger verfolgt hat, wusste daher, was von seinem Debütalbum in etwa zu erwarten war.

Auf »HERZ« spielt Luvre seine Stärken voll aus. Vom ersten Moment an setzt er Akzente und baut eine düstere Stimmung auf, die sich durch das ganze Album zieht. Gerade Tracks wie das gnadenlose »IN DEN LAUF« bringen die Lebensrealität seines Bezirks unmissverständlich auf den Punkt:

Normal kann jeder fall’n hier, nur nicht in dieselbe Tiefe

LUVRE47 – IN DEN LAUF

Tracks wie die Auskopplungen »TAGS UND PACKS« und »BLAU« erfinden das Rad zwar nicht neu, stehen aber für ein Gefühl, das Luvre über die Jahre schon immer gut vermitteln konnte. Der Sound, der maßgeblich den stimmungsvollen Produktionen von Weggefährten wie RGB1, DTP oder Myvisionblurry und Babyblue zu verdanken ist, kommt konsequenter Weise auf seinem Debüt gänzlich ohne Features aus. Dass Luvre andere Artists für mehr Abwechslung gar nicht unbedingt braucht, beweist er bereits auf dem Opener »EIN WORT«. Der Wechsel in seinen Stimmlagen geht ihm mittlerweile so versiert von den Lippen, dass er zwischen der ruhigen Hook und den deutlich energischer gerappten Parts nichts vermissen lässt.

Neben diesem und einigen anderen Bangern bietet »HERZ« aber auch zahlreiche ehrliche und verletzliche Momente, die unter die Haut gehen. Wenn er auf dem Titeltrack seinen Werdegang reflektiert und auch die unschönen Seiten aufzählt, glaubt man ihm aufs Wort. In einer Szene, die oft nur daran interessiert ist, sich gegenseitig mit immer krasseren Videos und Ansagen zu übertreffen, berühren Geschichten wie diese beim Hören. Und für Storytelling ist ein Album immer noch ein großartiges Format.

Roman Zingel

YRRRE – Feinstaub

Aus grobem Dreck wird feiner Staub, wenn YRRRE lyrisches Talent und sanfte Stimme auf Cap Kendricks‘ facettenreiche Produktion trifft. »Feinstaub« heißt das neueste Album des jungen Wahlleipzigers und konnte auf ganzer Linie überzeugen. Auf elf Tracks gießt er seine eigene Abgefucktheit, persönliche Abgründe von Koks- bis Netflixsucht und die Tristesse des Alltäglichen in ästhetische Formen.

Glaub ich kaufe mir ein Boot und versenke mein Gewissen auf dem Grund

YRRRE – Ich kauf’ mir ein Boot – Interlude
Albumcover »Feinstaub«

Dabei malt er wie gewohnt Bilder mit seinen Worten und schafft es durch seine innovativen Wortspiele und Metaphern beim Zuhörer keine Langeweile aufkommen zu lassen. Zudem wird jeglicher Anflug von Monotonie durch die unerwarteten Wendungen in der Produktion im Keime erstickt. Auch die Feature-Gäste Maeckes, Christopher Annen und John on a Mission gliedern sich perfekt in das Projekt mit ein und sorgen einmal mehr für die nötige Abwechslung beim Zuhören. YRRRE hat es geschafft, mit seinem zweiten Studioalbum künstlerisch den nächsten Schritt zu gehen und seinen Vorgänger »Yrrre« zu übertreffen. Seine unverwechselbar schöne Lyrik und die Liebe für das Detail machen dieses Projekt zu einem Hörerlebnis, das unter die Haut geht und einen nachhaltig berührt. 

Fynn Pschiuk