Next Up: YRRRE
Foto via Christoph Szulecki

YRRRE – Gedankenfäden und Laufmaschen

Stadtlärm, Dreck, dicke Luft, Smog, graue Tristesse und Autos, Autos, Autos – ungefähr die Assoziationen löst der Begriff Feinstaub auf Anhieb aus. Diese geballte Hässlichkeit darf nun für ein paar Momente getrost ausgeblendet werden, denn YRRREs Interpretation von »Feinstaub« ist das komplette Gegenteil – warm, verträumt und vor allem schön. Trotzdem ist der Albumtitel definitiv treffend gewählt, denn YRRRE findet ebenso viel Platz für allen Ballast des Alltags in seinen Texten, nur verpackt er ihn deutlich ästhetischer.

Bekomme Platzangst im Orbit deiner Tragweite, (…)
Herz in deiner Hand, Torso auf den Bahngleisen

YRRRE auf Dilemma

Beißende Pulver aus Stress und Depressionen, Motivationslosigkeit und Selbstzweifeln vermischt YRRRE mit feinen Prisen Ironie, Träumerei und zauberhafter Bildlichkeit. Aus Gedankenfäden spinnt er Traumfänger, die den Staub der Außenwelt filtern und im Schlechten einzigartige Schönheit finden. 

„Und diese Jungs da draußen schreiben wieder Verse, die es alle schon gab” – stichelte YRRRE noch auf seinem Debütalbum 2018. Wie wenig er sich an besagten „Jungs“ auch vier Jahre später ein Beispiel nimmt, beweist er nun auf Feinstaub in Perfektion – mit Zeilen so unorthodox, assoziativ und bildgewaltig wie sie wohl keiner außer ihm selbst zu schreiben vermag.

Habe kurz vor der Flut meine Badesachen verschenkt, doch eventuell wird noch etwas nach Maß für mich angeschwemmt.

YRRRE auf Ellenbogen

Paradoxerweise beherrscht er, während er eingekerkert in Kontrollverlust und Platzangst „darauf wartet, dass Streitereien sich von selbst klären” und sich „[fühlt] wie eine Wasserleiche“, das märchenhafte musikalische Abbild seines Alltags so sicher und mühelos wie kein Zweiter.

Next Up: YRRRE
Foto via Christoph Szulecki

Getragen wird YRRRE dabei von einem facettenreich verwobenen Klangteppich, der in seiner ganzen Breite zum Schweben einlädt und zugleich gezeichnet ist von genug Schwere, um den Boden der Tatsachen nicht aus den Augen zu verlieren. YRRRE und Produzent Cap Kendricks hinterlassen den Eindruck eines gut eingespielten Teams mit klarer, geteilter Vision.

So wirkt »Feinstaub« als Gesamtwerk dermaßen in sich geschlossen, dass man teilweise kaum mitbekommt, wann ein Song aufhört und wann der nächste beginnt. Um dabei nicht in der Schwere zu versinken und den dicken Klangteppich hier und da zu durchbrechen, bevor er generisch zu werden droht, flechten YRRRE und Cap Kendricks geschickt Features und instrumentale Überraschungen ein. Auf »Ellenbogen« zum Beispiel wird man ganz plötzlich von Garage-Punk-Sounds wachgerüttelt und in der Bridge auf »Laufmaschen« mit verspielten Synthies in Trance versetzt.

Insgesamt nimmt der Wahlleipziger in seinen Songs zumeist ganz locker das Tempo raus. Gemütliche Melodien schmiegen sich an warme Beats und erzeugen ein wohliges Gefühl, während YRRRE mit seinen Zeilen müde lächelnd Schlag für Schlag in die Magengrube verteilt. Da ist keine Spur von Hektik, von peitschenden Drums oder mechanischer Massenabfertigung. Stattdessen wird deutlich spürbar, wie akribisch YRRRE Schmerz und Liebe in seine Texte steckt und sich förmlich einzuhüllen scheint, in die Soundwelt, die er erzeugt. Beim Hören fühlt man sich, als könnte man für einen Moment Teil seines Lebens werden, denn YRRREs Begabung präzise die banalsten Situationen aus seinem Alltag zu greifen und filigran seine Emotionen darin zu verweben, macht es spielend leicht, sich in ihn hineinzuversetzen und sich wiederzufinden in Gedanken und Sorgen, die er teilt. 

Sendung liegt beim Nachbarn bis er Drohbriefe schreibt

YRRRE auf 40mg

YRRREs trockener Humor brilliert dabei in bizarren Beschreibungen und lockert die trübe Grundstimmung seiner Texte an vielen Stellen auf, wenn auch häufig mit einem bitteren Beigeschmack.

Äußere im Kokstaxi Musikwünsche, zieh’ die Scheiße hoch als wären’s Kniestrümpfe

YRRRE im Ziplock Interlude

Wie tief die Abgründe sind, die YRRRE zu verarbeiten hat, wird nicht zuletzt in immer wiederkehrenden Flucht- und Betäubungsszenarien deutlich. Von Zigaretten und Alkohol über Koks und Binge-Watching bis zum Boot mit dessen Hilfe er sein Gewissen auf dem Meeresgrund versenken möchte. YRRRE scheint ständig vor der Realität fliehen zu wollen und entscheidet sich schlussendlich doch für Angriff, indem er gnadenlos den Irrsinn seines Alltags aufdeckt, um die Kontrolle über seine Gedanken zurückzugewinnen und Frieden in Texten und Musik zu finden.

So schafft YRRRE es, aus purer Antriebslosigkeit schüchternen Mut, aus ehrlicher Schwäche erste Kraft und aus Traurigkeit endlich Hoffnung zu ziehen.

Wenn er den eingestaubten Trott mit seiner taumelnden Stimme in den abwegigsten und schönsten Vergleichen beschreibt, beginnen Alltags-Banalitäten zu glitzern und am Ende ist es dieser Zauber im Simplen und Schlechten, der Feinstaub wie Feenstaub erscheinen lässt und YRRREs zweites Album zu einem rundum magischen Erlebnis macht, das ihn in einer fairen Welt endgültig vom Newcomerstatus lösen müsste.