Wut, Hass und Frustration sind unbequeme Emotionen, die gesellschaftlich insbesondere dann ungern gesehen und als normabweichend missbilligt werden, wenn FLINTA*-Personen sie verkörpern. Wir wollen mit diesem Beitrag das Gegenteil versuchen: die Daseinsberechtigung bzw. die dringende Notwendigkeit starker, negativer Emotionen herausstellen, der Energie, die sie entfalten, Raum geben und den Geschichten dahinter Aufmerksamkeit schenken. Denn:
Jede dritte Frau in Deutschland ist in ihrem Leben mindestens einmal von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen.
Jede vierte Frau erlebt körperliche und/oder sexuelle Gewalt in ihrer Partnerschaft.
Zwei von drei Frauen erleben sexuelle Belästigung. (Quelle: BMFSFJ)
Schon bei oberflächlichen Internet-Recherchen finden sich etliche statistische Belege für das reale Problem patriarchaler Gewalt. Dass auch die Musikindustrie davon unterwandert ist, ist längst kein Geheimnis mehr. Doch die gefährliche Kombination aus großen Träumen auf der einen und gewissenlosem Machtmissbrauch auf der anderen Seite bleibt akut.
Umso wichtiger ist es, dass FLINTA*s gehört und unterstützt werden, am besten bevor, aber spätestens wenn sie selbst laut werden und ihre Machtposition reclaimen müssen.

Bangerfabrique – Crash Out
„Death to all abusers” lassen emmamaelo, nebou und melle recht unmissverständlich direkt zu Beginn von »CRASH OUT« wissen. In ihrer Haltung sind bangerfabrique ja sowieso schon immer ziemlich klar und direkt gewesen, haben sich dabei vor allem sexpositiv und feministisch positioniert. Doch mit der vor zwei Wochen veröffentlichten Single richten die Hamburgerinnen sich nun explizit gegen Täter und rechnen hart ab mit übergriffigem Verhalten. Auch wenn »CRASH OUT« ohne Namedropping auskommt, so verraten die gepeepten Stellen und die Delivery dieser und weiterer Zeilen des Tracks doch, dass Abuser sich nicht mehr sicher fühlen dürfen.
Woran erkennt man Abuser? Dass sie bald keiner mehr bucht!
Das wäre ja schon mal ein Anfang…
Kitana – Alte Geister
Noch expliziter, wenn auch ohne namentliche Erwähnung, wird Kitana im Outro ihres jüngsten Albums »Fatality«. Auf »Alte Geister« adressiert sie ein Trauma und dessen Verursacher. Es geht dabei ganz klar um eine männliche Person, die Macht und Vertrauen gegenüber einer Minderjährigen missbraucht und dabei schwerwiegende psychische Schäden hinterlassen haben muss. Auch ohne weitere Details wird die Tragweite dessen unmissverständlich deutlich. In wortgewaltigen Zeilen und Rachefantasien kanalisiert Kitana nun eine über Jahre angestaute Wut. Auf der Suche nach gerechten Konsequenzen erkämpft sie sich mindestens eines: Sie wird vom passiven Opfer zum handelnden Subjekt, das den Täter uneingeschüchtert konfrontiert und zur Verantwortung zwingt.
Sah keine Reue, kein Bedauern in dei’m Blick // Ich hatte keine Zeugen, keine Aussage die hilft // Ich brauch’ keine Justiz, du bist ein kranker Psychopath // deshalb ramm’ ich dir die Gun in deinen Rachen bis du platzt
Sierra Kidd – Big Boi
Auch »Big Boi« behandelt einen Fall patriarchaler Gewalt. Als erste männliche Stimme in dieser Auflistung tritt Sierra Kidd darin lediglich als angehöriger Beobachter auf, dennoch ähnelt seine Attitüde der von Kitana. Der gut fünf Minuten lange Song ist biographisch aufgebaut und behandelt diverse Struggles seines Lebens sowie seiner Familie. Der komplette dritte Part widmet sich schließlich einem ehemaligen Stiefvater, der sich erst das familiäre Vertrauen erschlichen hat, um anschließend Kidds Mutter „fast blind” zu schlagen. Auch in diesem Fall scheint der Abuser ohne weitere Konsequenzen davongekommen zu sein, was in Kidd eine Wut hinterlässt, die er in einigen mehr oder weniger expliziten Drohungen stilistisch verarbeitet.
Du weißt, wen ich kenne, und sie kennen dein Gesicht // Bis heute weiß ich nicht, was passiert, wenn ich dich erwisch’
RAYE – Ice Cream Man.
Bei Fällen von sexueller Gewalt wird gerne von Einzeltäter*innen und Einzelfällen gesprochen. Dass die Erfahrungen, die Kitana und Bangerfabrique in ihrer Musik schildern, aber genau das nicht sind, zeigt der Song »Ice Cream Man.« der britischen Künstlerin RAYE. Ein Song, der einen – besonders in der Live-Version – nicht nur Gänsehaut gibt, sondern auch dicke Tränen in den Augen ansammeln lässt. RAYE beschreibt die Situation im Studio – ein Kontext, der oft gefährlich für FLINTA*-Artists ist, da Musikstudios nicht nur sehr isoliert sind, sondern die Arbeit an Musik auch zu anderen Zeiten stattfindet und so die Linien zwischen professionell und privat oft verschwimmen. Es gibt genügend Berichte von Producern und Studiobossen, die dieses intime Setting ausnutzen – sexuelle Praktiken als Tausch für die Hoffnung auf eine Musikkarriere. Wenn das nicht funktioniert, wird sich einfach genommen, was nicht aus freien Stücken gegeben wurde. Diese und mehr Situationen besingt RAYE mit ihrer kraftvollen Stimme:
And I was 7 // was 21, was 17, I was 11 // It took a while to understand what my consent means // If I was ruthless, they’d be in the penitentiary.
Dabei scheut sie sich auch nicht davor, auf die Folgen einzugehen und was das alles mit ihr gemacht hat. Ein sehr beeindruckendes Lied, das aber nicht nur tragisch ist, sondern auch wütend macht. In der Tat: RAYE ist eine verdammt mutige und starke Frau, die ihr Debütalbum »My 21st Century Blues« genutzt hat, um diesen Gefühlen einen Ausdruck zu verleihen.
Jessie Reyez – Gatekeeper
Produzenten und Studiobosse sind die Wächter der Musikwelt. Wer Karriere in dieser Welt machen möchte, wird früher oder später auf sie stoßen. Die ungleichen Machtverhältnisse, die RAYE im Studio besingt, sind aber nur ein Beispiel für die Wurzeln des Problems. Es ist ein strukturelles Problem, das sich durch die ganze Musikindustrie zieht. Kaum jemand spricht dies so direkt an wie Jessie Reyez, die auf »Gatekeeper« direkt aus der Perspektive der Täter singt. Wer jetzt meint: „Sag doch einfach Nein.”, sollte sich einmal überlegen, wie sich der Druck einer ganzen Industrie anfühlt – nach langen Jahren harter Arbeit, ohne voranzukommen. Oder ob ein „Nein” wirklich ernst genommen wird in einem Raum voller Männer, die dieses Wort sonst nicht kennen. Eine Erfahrung, die häufiger gemacht wird, als man denken möchte.
We are the gatekeepers, spread your legs, open up // You could be famous, girl, on your knees // Don’t you know what your place is?
In ihrer neuen Dokumentation Mañana Fue Muy Bonito spricht die kolumbianische Sängerin Karol G erstmals über ihre Erfahrung mit sexuellem Missbrauch in der Musikwelt. Sie ist fast identisch mit der, die Jessie Reyez beschreibt.