Als „die beste Platte seiner ganzen Diskografie” hatte Döll »weg vom Weg« auf »Sieh mich an« angekündigt. Für derlei Übertreibungen ist man im Album-Promo-Kontext ja eigentlich abgehärtet, in Anbetracht der geballten inhaltlichen Wucht und filigranen textlichen Raffinesse dieser ersten Single-Auskopplung lag dennoch die Versuchung nah, den Südhessener beim Wort zu nehmen. Entsprechend hoch mussten die Erwartungen vor dem Release sein, der nun nicht an den etwas enttäuschenden letzten Tapes »Nackt« und »Chips«, sondern am Untergrund-Klassiker »Nie oder Jetzt« gemessen werden wollte.
Döll – weg vom Weg
11 Songs, 1 Skit, 31 Minuten Spieldauer – soweit typische Dimensionen für ein Döll-Tape. Auch der Empfang auf »Immer noch« kommt standesgemäß als wuchtiger Representer. Auf einem epischen Brassbeat setzt Döll den Ton für das Album, teilt in alle Richtungen aus (auch gegen sich selbst) und füttert sein persönliches Narrativ rundum „schweißgebadete Nächte” und „zweifelerhabene Texte”.
Bin für Rapper ‘ne Respektsperson. Way back waren das hier safe sechs Kron’n. Ich holte Menschen aus ‘nem depressiven Tief. Deine Musik trieb sie in ‘ne Depression.
Immer noch
Der technische Anspruch und die Angriffslust halten sich auf »Ouch« und »2:31« konstant hoch. Allein diese ersten 8 Minuten liefern mehr Quotables als ganze Diskografien anderer Artists, insofern muss man Dölls Hybris bisher für angemessen halten.
»Man denkt« leitet als Skit in den (selbst-)therapeutischen Teil des Albums über. Hier sticht vor allem »Gedanken« heraus. Voll gepackt mit Affirmationen und Anleitungen zur Selbsthilfe funktioniert der Track wie ein Werkzeugkoffer für Döll selbst, aber auch für andere Personen, die gerade mental strugglen und ein paar wohlwollende Worte gebrauchen können.
Du bist nicht deine Gedanken. Zwing dich einfach zu handeln(…) Die Vergangenheit is’ gegang’n (…) Sorg’ dafür, dass du dein’n Geist entspannst. Bleib dran und irgendwann heilst du ganz.
Gedanken
Die diversen Erkenntnisse und der optimistische, fast versöhnliche Aspekt des Tracks verkörpern eine neue Qualität des sonst zumeist dystopisch Getriebenen und bereichern das Album enorm. Im Vergleich dazu zünden die zwei folgenden Songs leider nicht wirklich. Zwar tragen beide zur Erzählung des Albums bei und insbesondere »Wie es war« liefert elementare persönliche Einblicke, doch das Cora E. Sample ist mittlerweile etwas abgenutzt und »weg vom Weg« wirkt in seiner monotonen Wucht ähnlich uninspiriert wie der Großteil von »Chips«.
Der Blick nach außen
Zum Glück folgt mit »Wieder hier« ein absolutes Album-Highlight. Hier verlässt Döll die Introspektion und wird stattdessen zum mitfühlenden Beobachter verschiedener Schicksale einer Gruppentherapie. Verbunden durch ein großes gegenseitiges Verständnis, kann über die schlimmsten Geschichten teils nur makaber gelacht und die offizielle Bescheinigung von Erwerbsfähigkeit kaum für voll genommen werden. Dieses schonungslose Storytelling, der empathische Blick nach außen, das reduzierte, sphärische Instrumental und der zaghafte Versuch einer gesungenen Hook schaffen einen nie dagewesenen Döll-Song auf absolut höchstem Level.
Anna ist 19 und wurd auch schon auf 29 geschätzt. (…) Sie würd’ gern bleiben, bis sie was findet was sie gesund werden lässt, doch bleibt so lange wie sie die Rentenkasse lässt. (…) Sie wirkte abwesend mit ihrer ganzen Anwesenheit und die Klinikleitung bestätigt ihr die Erwerbsfähigkeit
Wieder hier
Doch in großen Momenten wie diesen liegt auch ein Verhängnis, das auf dem Album mehrfach wiederkehrt. Die Messlatte einiger Songs erreicht eine Höhe, der andere Songs nicht gerecht werden können. So auch »Unter Vier« – ein Einblick in Dölls Jugend, der die längst auserzählte, typisch toxische Pseudo-Liebesgeschichte von zwei Personen, die nur in Rausch, Sex und Verlorenheit vereint sind, ein weiteres Mal aufrollt.
Ein versöhnliches Finale
Auch auf dieses Low folgt allerdings ein neues High. Vor dem großen Finale werden wir mit dem zweiten von drei hooklosen Tracks beschenkt, 3 Minuten pure Eloquenz – Dölls Paradedisziplin. »Hol es zurück« resümiert ein weiteres Mal seine überstandenen Notlagen, sein enormes Standing sowie die Diskrepanz zwischen Skill und Erfolg in der Deutschrap-Szene. Mit seinem gesetzten Ton und dem fantastischen Sitar-Sample-Beat erzeugt der Song eine warme Atmosphäre, die auch als Outro funktionieren könnte. Wenn da nicht ein noch krasseres Outro warten würde.
Ich war mit Top-Ten-Rappern im Studio, die Angst hatten, mir ihre Sachen zu zeigen.
Hol’ es zurück
Sie geben ‘ne Menge vor, doch scheitern dann daran, das zu sein.
Nun wissen wir mittlerweile, dass Döll „weg“ ist von seinem krisengeplagten Weg, dass er therapiert ist, nüchtern, klarer, selbstsicherer und somit musikalisch gefährlicher denn je. Auf »Kette« liefert er schließlich die beinahe kitschige Antwort, woraus er Kraft und Mut für diese Entwicklung zieht. Es ist eine neue Liebe, die für ihn als Anker und Motor fungiert, neue Leidenschaft entfacht und Gründe liefert, um zur besten Version seiner selbst zu werden.
Doch ich glaub’, du bist meine Antwort, fragt man: „Wofür mach ich das?“ Mein „deswegen hab ich damals so viel Kraft gehabt“
Kette
Er war vielleicht das schwächste Glied seiner Kette, doch die Kette hielt stand. Wer ihm neben/vor seiner Liebe Halt gab, erwähnt Döll auf »Sieh mich an« schließlich sogar namentlich – Torky Tork und Audio88 beispielsweise, aber insbesondere Mighty (dermighty), der auch den Großteil des Albums produziert hat.
Der beste Döll aller Zeiten?
Vom Hoffnung erweckenden Startschuss der Promophase wird »Sieh mich an« hier zum krönenden Abschluss des Albums. Der Song bringt auf den Punkt, was Dölls Status in der Szene rechtfertigt. Seine Begabung, auf höchstem technischen Niveau Emotionen in Worten zu konservieren und sich selbst zu therapieren, ist einmalig. Selbst der banale Bericht vom tristen 9-to-5-Callcenterjob wird da zu einer fesselnden Erzählung.
„Hallo, hallo, wie zufrieden sind Sie mit ihrer Scheißbank?
Sieh mich an
Und wieviele Drecksbanken kennen Sie, die man mit ihr vergleichen kann?“
Ich dacht’, ich bin zum Scheitern verdammt, sobald ein Freizeichen erklang
Wenn Döll in Fahrt gerät, sind es nicht nur die Stories, die elektrisieren, nicht nur die Bars, die hitten, nicht nur die Reime, die faszinieren, sondern jeder Zischlaut, jeder harte Konsonant und jede Pause, deren Aura aus tiefster Seele Rap atmet.
Man muss dankbar sein, dass Döll im Texten sein Ventil gefunden hat und hoffnungsvoll, dass er tatsächlich den Absprung geschafft hat und wir ihn in Zukunft womöglich über ganz neue Themen, abseits der Sucht, rappen hören. Schon jetzt sind die untypisch positiven oder auch melodiösen Einschläge eine große Bereicherung.
Das Album hat seine Schwächen, die vor allem im Kontrast zu den klaren Höhepunkten auffallen. Jedoch zeigt es ohne Frage einen Döll auf seinem absoluten A-Game, der das Leid-Kunst-Narrativ seiner Diskografie auf die Spitze treibt und auf emotionaler, musikalischer und lyrischer Ebene einschlägt. Man darf ihm also zustimmen: »weg vom Weg« ist das beste Döll-Album bisher!